Blindheit und Prävalenz

Licht ist der wichtigste Zeitgeber für das Stellen der biologischen Uhr

Die endogene biologische Uhr läuft bei den meisten Menschen nicht exakt im 24-Stundentakt der Erdumdrehung, sondern nur in einem ungefähren (zirkadianen) Rhythmus. Meist ist der endogene Tag etwas länger als der Umgebungstag. Die individuelle tägliche Abweichung kann nur wenige Minuten aber auch über 1 Stunde betragen.1,2

Die biologische Uhr ist im suprachiasmatischen Nukleus (SCN), einem paarigen Ganglienkomplex im Hypothalamus, lokalisiert. Sie muss täglich durch äußere Zeitgeber auf genau 24,0 Stunden adjustiert werden. Der wichtigste Zeitgeber ist das Licht, d.h. der tägliche Hell-Dunkel-Wechsel.3

 

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Abbildung 1: Die zirkadiane innere Uhr (SCN) wird durch Licht täglich auf genau 24 Stunden adjustiert.3

 
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Völlig blinde Menschen haben keinerlei Lichtwahrnehmung mehr und sind deshalb häufig von Non-24 betroffen.2

Eine Sehbehinderung wird in Deutschland nach sozialrechtlichen Grundsätzen in 3 Kategorien eingeteilt:4

  • Ein Mensch ist sehbehindert, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 30 % von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt (Sehrest ≤ 30 %).
  • Ein Mensch ist hochgradig sehbehindert, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 5 % von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt (Sehrest ≤ 5 %).
  • Ein Mensch ist blind, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 2 % von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt (Sehrest ≤ 2 %).

Blindheit nach dieser Definition heißt daher nicht, dass die blinde Person überhaupt nichts mehr sieht, sondern er kann noch eine sehr schwache Lichtwahrnehmung haben. Blinde Menschen ohne jegliche Lichtwahrnehmung werden als völlig blind oder vollblind bezeichnet.

Es gibt keine genauen Zahlen darüber, wie viele völlig blinde Menschen ohne sich unter den sozialrechtlich als blind definierten Personen befinden. Eine Schätzung in den USA beläuft sich auf 20 %.5

Ungefähr 50 % der völlig blinden Menschen müssen mit Non-24 leben, d.h. ihre innere Uhr läuft frei nach ihrem endogenen Rhythmus und sie leiden unter chronischen zyklischen Schlafstörungen.2,6-9 Weitere 20-30 % weisen zwar eine zirkadiane Periode von 24 Stunden auf, aber leiden unter zirkadianen Rhythmusstörungen in Form einer Phasenverschiebung gegenüber dem Hell-Dunkel-Tag, d.h. ihre innere Uhr ruft regelmäßig jeden Tag deutlich früher (Phasenvorlauf) bzw. später (Phasenverzögerung) zum Schlafen auf, als es der sozialen Zeit entspricht.2,8,9

Etwa 25 % der völlig blinden Menschen sind normal mit dem 24-Stundentag synchronisiert. Dies könnte auf spezielle medizinische Bedingungen zurückzuführen sein. D.h., dass das Lichtsignal noch den SCN erreicht und die biologische Uhr adjustieren kann während die Verbindung zum Sehzentrum zerstört ist, z.B. durch einen Tumor. Oder dass die Stäbchen- und Zapfenfunktion in der Retina geschädigt ist, jedoch die Ganglienzellschicht der zirkadianen Photorezeption noch teilweise intakt ist. Eine bilaterale operative Entfernung der Augen führt jedoch in der Regel zu Non-24.2,8,9

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass bei diesen Personen in Abwesenheit von Licht die innere Uhr durch andere externe Zeitgeber synchronisiert werden kann, z.B. durch soziale Interaktionen, körperliche Aktivität oder Umgebungsgeräusche bzw. Ruhe während der Nacht. Diese, im Vergleich zu Licht schwachen Zeitgeber, können die innere Uhr allerdings nur in sehr eingeschränktem Rahmen synchronisieren, d.h. am ehesten bei Personen, deren endogener Tag nur wenig von 24,0 Stunden abweicht.8,10

 

Referenzen:

1. Czeisler CA & Gooley JJ. Sleep and circadian rhythms in humans. Cold Spring Harb Symp Quant Biol 2007;72:579-597.
2. Uchiyama M & Lockley SW. Non-24-hour sleep-wake rhythm disorder in sighted and blind patients. Sleep Med Clin 2015;10:495-516.
3. Welsh DK et al. Suprachiasmatic nucleus: cell autonomy and network properties. Annu Rev Physiol 2010;72:551-577.
4. Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV): https://www.dbsv.org/zahlen-fakten.html (Zugang: 21.04.2020).
5. Sack RL et al. Entrainment of free-running circadian rhythms by melatonin in blind people. N Engl J Med 2000;343:1070-1077.
6. Sack RL et al. Circadian rhythm abnormalities in totally blind people: incidence and clinical significance. J Clin Endocrinol Metab 1992;75:127-134.
7. Lockley SW et al. Relationship between melatonin rhythms and visual loss in the blind. J Clin Endocrinol Metab 1997;82:3763-3770.
8. Lockley SW et al. Visual impairment and circadian rhythm disorders. Dialogues Clin Neurosci 2007;9:301-14.
9. Flynn-Evans EE et al. Circadian disorders and melatonin production in 127 blind women with and without light perception. J Biol Rhythm 2014;29:215-24.
10. Duffy JF & Czeisler CA. Effect of light on human circadian physiology. Sleep Med Clin 2009;4:165-177.